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Decision Game und Handlungsempfehlungen aus Leader’s Digest #21

Zum Decision Game aus Leader’s Digest #21 haben uns detaillierte Handlungsempfehlungen erreicht. Dr Florian Demont hat die Einsendungen gesichtet und eine Handlungsempfehlung mit einem Exemplar des Buchs des Monats prämiert.

Die Decision Games des Leader’s Digest sollen die Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters anregen, sich im Rahmen von Szenarien in die Rolle von Personen zu versetzen, die sich mit ethischen bzw. taktischen Herausforderungen konfrontiert sehen.

Zunächst wiederholen wir das letztmalig vorgestellte Szenario; im Anschluss würdigt Dr Florian Demont, Militärethiker an der Dozentur für Führung und Kommunikation an der ETH Zürich, die diskussionswürdigste Handlungsempfehlung.

Decision Game aus Leader’s Digest #21

Szenario «Widerstand»

Niemand hätte damit gerechnet: Nach einem ersten Probing Russlands im Baltikum stellte sich die NATO als handlungsunfähig heraus. Europa zerfiel schockierend rasch in eine pro- und eine antirussische Seite. Der folgende wirtschaftliche und gesellschaftliche Niedergang führte zu zahlreichen kleineren Konflikten über den ganzen Kontinent verteilt. Die zunächst verschonte Schweiz weckte dabei Neider – und nachdem sie sich geweigert hatte, klar Position zu beziehen, wurde ein Teil ihres Territoriums im Sinne einer Pfandnahme besetzt.

Seither steht die Schweiz nordöstlich der Limmat unter fremder Kontrolle. In diesem Gebiet formieren sich nun irreguläre Kräfte, die nach dem Vorbild von Major Hans von Dachs Konzept des «Totalen Widerstands» gegen die Besatzer vorgehen.

Ihre Kompanie, ursprünglich aus Ostschweizern gebildet, ist im Wasserschloss eingesetzt – ein Gebiet, das nach wie vor zur freien Schweiz gehört. Doch Ihre Offiziere haben über ihre Familien- und Heimatkantonsbeziehungen direkte Verbindungslinien ins besetzte Gebiet. Damit steht im Raum, dass Lieferungen an die Widerstandsgruppen zumindest denkbar wären.

In einer abendlichen Lagebesprechung entbrennt zwischen Ihren Offizieren eine hitzige Diskussion:

  • Leutnant Ruckstuhl aus Bichelsee ist fest überzeugt: «Hundert Kilo Plastit sind in der Hand des Thurgauer Widerstands sicher wertvoller als bei uns im Munitionsmagazin. Meine Cousinen könnten den Transfer organisieren, wenn wir das zulassen.»
  • Oberleutnant Gmür aus Flawil hält vehement dagegen: «Wir haben ja selber kaum genug Sprengmittel, um unsere Sperren aufrechtzuerhalten. Wenn wir abgeben, gefährden wir unsere eigenen Aufträge. Abgesehen davon ist es verboten»
  • Leutnant Ziegler aus Hallau wirft ein: «Genau, und wer sagt uns, dass die Irregulären nicht auch Zivilisten ins Visier nehmen? Wenn wir sie versorgen, tragen wir Mitverantwortung für mögliche Kriegsverbrechen.»
  • Schliesslich warnt Oberleutnant Kellerhals aus Marbach: «Die Besatzer würden Vergeltung üben, vielleicht genau gegen die Dörfer, aus denen unsere Familien stammen. Wollen wir das riskieren?»
  • Da explodiert Leutnant Hohl aus Herisau, während ihm gleichzeitig Tränen in die Augen schiessen: «Ihr verdammten Feiglinge! Habt ihr eigentlich mitbekommen, was letzte Woche in Wil passiert ist? Ihr wisst genau, wer die Kriegsverbrechen begeht. Und jede Patrone im Magazin eines Schweizer Widerstandskämpfers hilft, solche Verbrechen zu verhindern.»

Der Streit wird zunehmend persönlicher, Emotionen steigen hoch – einige Offiziere pochen auf Solidarität mit den eigenen Leuten jenseits der Front, andere erinnern an die Pflicht, den Auftrag im freien Teil des Landes zu erfüllen.

Fragestellung

Vor diesem Hintergrund stellen sich Ihnen drei Fragen:

    1. Wie schlichten Sie den Streit als Kompaniekommandant?

    2. Welche inhaltliche Position nehmen Sie persönlich ein?

    3. Kommunizieren Sie diese Meinung im Kreise Ihrer Offiziere?

Handlungsempfehlungen zum Decision Game aus Leader’s Digest #21

Das Szenario «Widerstand» konfrontiert einen Kompaniekommandanten mit einer Problematik, in dem rechtliche Pflicht, institutionelle Verantwortung, persönliche Moral und die emotionale Notlage der Untergebenen miteinander verknüpft sind. Die eingereichte Lösung von Markus Heini wurde als die beste bewertet, weil sie dieses Spannungsfeld nicht nur erkennt, sondern einen prozedural, ethisch und führungstechnisch sinnvollen Weg zur Auflösung aufzeigt.

1. Einordnung des Szenarios: Das moderne ethische Schlachtfeld

Das Szenario wirft den Kommandanten in eine Situation, die einen Kernkonflikt der heutigen Militärethik und des humanitären Völkerrechts widerspiegelt. Traditionell basierte die Ethik des Soldaten auf klaren Hierarchien, Befehl und Gehorsam – die Verantwortung lag primär bei der politischen Führung, die den Krieg befahl, und weniger beim einzelnen Kombattanten. Dieses klassische Modell, das auf dem staatlichen Gewaltmonopol fusst, trennt scharf zwischen der politischen Entscheidungsebene (jus ad bellum) und der militärischen Handlungsebene (jus in bello). Für den einzelnen Soldaten bedeutete dies eine klare moralische Arbeitsteilung: Seine Pflicht war es, Befehle auszuführen und sich an die Kriegsregeln zu halten, während der Staat die moralische Last für den Krieg selbst trug. Ein wesentlicher Eckpfeiler ist die strikte Trennung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten im Krieg. Neuere, oft als «revisionistisch» bezeichnete Ansätze, die legitime Gewaltanwendung anhand von Notwehr und Notwehrhilfe im Zivilleben analysieren, stellen dieses Fundament in Frage und verlagern den Fokus zunehmend auf die moralische Verantwortung des Individuums. Begleitet durch die wachsende Bedeutung der Menschenrechte in völkerrechtlichen Bewertungen, argumentiert diese Perspektive, dass ein Soldat, der für einen ungerechten Aggressor kämpft, seinen moralischen Schutzschild verliert und selbst zu einem legitimen Ziel wird. Diese Perspektive untergräbt die traditionelle Gleichheit aller Kombattanten und fordert vom Einzelnen eine Gewissensprüfung, die weit über das blosse Befolgen von Befehlen hinausgeht.

Diese Spannung ist im Szenario präsent:

  • Die traditionelle Sicht: Oberleutnant Gmür pocht auf den Auftrag und die Vorschriften («es ist verboten»).
  • Die individualistische Sicht: Leutnant Hohl beruft sich auf sein Gewissen und die moralische Pflicht, angesichts von Kriegsverbrechen zu handeln («Ihr verdammten Feiglinge!»).

Kritiker könnten einwenden, das Szenario sei strategisch ungenau oder aus Sicht traditionell bewährter Praxis fragwürdig. Doch diese Kritik verkennt den didaktischen Zweck: Die strategische Unklarheit ist kein Mangel, sondern ein bewusst eingesetztes Werkzeug. Sie simuliert eine Form des «ethischen Nebels», der in modernen, hybriden Konflikten zur Realität werden kann. In solchen Lagen sind klare Frontlinien und eindeutige rechtliche Status (Freund, Feind, Zivilist) oft kaum zu erkennen. Die Isolation des Kommandanten zwingt ihn, ohne einen klaren Befehl von oben eine Entscheidung zu treffen, die sowohl seiner institutionellen Rolle als auch seinem moralischen Kompass gerecht werden muss. Es geht hier darum eine zeitlose Führungskompetenz zu schulen: Urteilsvermögen unter moralischem Druck.

Dieser «Test für Führung im ethischen Nebel» ist weit mehr als eine intellektuelle Übung. Er zwingt die Führungsperson, widersprüchliche Loyalitäten abzuwägen: die Loyalität zur Befehlskette, die Loyalität zu den eigenen Soldaten und deren emotionaler Not, die Loyalität zur leidenden Zivilbevölkerung und die Loyalität zum eigenen Gewissen. Ein Kommandant, der in dieser Lage besteht, beweist nicht nur Regelkenntnis, sondern moralischen Mut und charakterliche Widerstandsfähigkeit. Er muss einen Standpunkt der Verantwortung finden, wenn die Hierarchie schweigt. Militärische Führungspersonen müssen daher lernen, ihr Entscheiden und Handeln mit den aktuellen Entwicklungen in der Militärethik und im Völkerrecht in Einklang zu bringen. Nur so kann auf allen Ebenen die Glaubwürdigkeit und Legitimität nach aussen und nach innen gewahrt bleiben. In einer Zeit, in der jede taktische Handlung durch soziale Medien eine strategische Wirkung entfalten kann, ist dies keine Nebensächlichkeit, sondern eine Kernkompetenz. Eine ethisch fragwürdige, wenn auch vielleicht gut gemeinte Entscheidung auf Kompanieebene kann das Vertrauen der Bevölkerung in die gesamte Armee untergraben und damit einen strategischen Schaden anrichten, der weit über den unmittelbaren Nutzen hinausgeht. Gegenwärtige Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit diesen Themen in politischen und akademischen Diskursen belegen die Virulenz der Problematik.

2. Die Lösung von Markus Heini

Heinis Vorschlag überzeugt, weil er das Problem ganzheitlich erfasst und in vier Schritten löst: Prozess, Führung, Inhalt und Operation.

a) Der Prozess: Souveräne Deeskalation

Heini erkennt als Erstes die unmittelbare Gefahr: «Generell sind Emotionen schlechte Wegweiser.» Seine oberste Priorität ist es, die irrationale, eskalierende Debatte zu beenden und einen rationalen Entscheidungsfindungsprozess zu etablieren. Indem er die Entscheidung auf den nächsten Tag verschiebt, gewinnt er Zeit, kühlt die Gemüter ab und stellt seine Autorität als prozessführende Instanz wieder her. Dieser Schritt ist die unabdingbare Voraussetzung für jede tragfähige Lösung.

b) Die Führung: Die Kunst der Kommunikation

Der Kern von Heinis Ansatz liegt in der von ihm wörtlich ausformulierten Ansprache an seine Offiziere. Diese «Battle Speech» ist ein gutes Beispiel für ausbalancierte Führung:

  • Emotionale Verbindung: Er beginnt mit persönlicher Betroffenheit («Auch ich als gebürtiger Thurgauer leide mit euch»), schafft eine gemeinsame Basis und validiert die Emotionen seiner Untergebenen. Er zeigt, dass er sie versteht.
  • Unmissverständliche Autorität: Unmittelbar danach zieht er eine klare Linie und begründet seinen Befehl rational und nachvollziehbar: «Wir können keine Kampfmittel an den Widerstand senden.»

Er demonstriert damit den Grundsatz «Verstehen, ohne einverstanden zu sein». Er holt seine Leute emotional ab, ohne jedoch bei der Sache selbst einen Kompromiss einzugehen.

c) Der Inhalt: Der ethisch überlegene dritte Weg

Hier liegt die ethische Substanz seiner Lösung. Heini verfällt nicht in ein simples Ja/Nein-Schema. Er lehnt die Lieferung von Sprengstoff klar ab, aber nicht nur aus formaljuristischen Gründen. Seine ethische Hauptmotivation ist der Schutz der Zivilbevölkerung vor absehbaren, brutalen Repressalien – eine direkte Anwendung der Prinzipien der Verhältnismässigkeit und des Schutzes von Nichtkombattanten.

Seine «Option 3» – die Unterstützung mit Medikamenten, Aufklärungsdaten und Know-how – ist der entscheidende Schritt. Dieser dritte Weg löst die Problematik:

  • Er erfüllt die institutionelle Pflicht: Kein Verstoss gegen Vorschriften, keine Gefährdung des eigenen Auftrags.
  • Er erfüllt die moralische Pflicht: Er lässt seine Landsleute nicht im Stich und leistet Hilfe.
  • Er schützt die Zivilbevölkerung: Indem er die Widerstandskämpfer nicht zu vollwertigen Kombattanten macht, minimiert er die Eskalationsspirale der Gewalt.

d) Die Operation: Proaktive und verantwortungsvolle Autonomie

Heini begnügt sich nicht mit seinem Entscheid, sondern entwirft einen klaren Plan zur Umsetzung. Er wartet nicht passiv auf Befehle, sondern nutzt seine Autonomie als Kommandant. Sein «Schritt 6» – die proaktive Information des Stabes und der Antrag auf Umsetzung seines Plans – zeigt ein modernes Verständnis von «Auftragstaktik». Er handelt im Sinne der übergeordneten Führung, ergreift aber die Initiative, um das Problem vor Ort zu lösen. Dies unterscheidet einen Leader von einem blossen Verwalter.

3. Fazit

Der Lösungsvorschlag von Markus Heini ist die beste Einsendung, weil er eine umfassende Antwort auf ein komplexes Problem gibt. Er demonstriert nicht nur, was die richtige Entscheidung ist, sondern auch, wie ein Kommandant diese prozedural einleitet, führungstechnisch kommuniziert und operativ umsetzt. Er navigiert durch das Spannungsfeld von Recht, Moral und Emotion und liefert eine Blaupause für Führung im Angesicht eines modernen militärethischen Dilemmas. Wir gratulieren Markus Heini zum Gewinn des Buches Grunts: Inside the American Infantry Combat Experience von John McManus.

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