Die Decision Games des Leader’s Digest sollen die Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters anregen, sich im Rahmen von Szenarien in die Rolle von Personen zu versetzen, die sich mit ethischen bzw. taktischen Herausforderungen konfrontiert sehen.
Zunächst wiederholen wir das letztmalig vorgestellte Szenario; im Anschluss würdigt Dr Florian Demont, Militärethiker in der Dozentur Führung und Kommunikation der Militärakademie an der ETH Zürich, die diskussionswürdigste Handlungsempfehlung.
Decision Game aus Leader’s Digest #18
Szenario
(basierend auf wahren Begebenheiten)
Sie sind unbewaffneter UNO-Militärbeobachter im Range eines Hauptmanns und im Rahmen der Schweizerischen militärischen Friedensförderung an die United Nation Truce Supervision Organisation (UNTSO) im Nahen Osten abgeordnet. Ihre Aufgabe besteht darin, die Waffenruhe zwischen Israel und Syrien in der entmilitarisierten Zone (Area of Separation – AoS) in den Golanhöhen zu beobachten. Dazu sind sie auf einem der fix installierten Beobachtungsposten auf der syrischen Seite der AoS positioniert. In ihrem Einsatzraum befinden sich nebst zehn weiteren UNTSO-Beobachtungsposten und Patrouillen, auch noch die United Nation Disengagement Observer Force (UNDOF) mit zwei Infanterie- und einem Logistik-Bataillon.
Seit einiger Zeit wütet in Syrien ein Bürgerkrieg. Die Machtverhältnisse in den Golanhöhen sind dynamisch und in verschieden Ortschaften und Landstrichen in der AoS wechselt wöchentlich die Kontrolle zwischen Regierungskräften und oppositionellen Gruppierungen. Letztere lassen sich oftmals bis auf die Waffen nicht oder nur schlecht von der lokalen Bevölkerung unterscheiden. Durch den Konflikt sind nun permanent leichte und schwere Waffensysteme im Einsatz in der AoS, was das Abkommen zwischen Syrien und Israel gefährdet. Israel beobachtet die AoS eng von ihren eigenen Beobachtungsposten aus und jeder «spill-over» wird mit Luftangriffen auf Syrische Positionen beantwortet. Letzte Nacht kam es wieder zu starken Gefechten in der Nähe ihres Beobachtungspostens, auf dem Sie zu zweit mit einem Offizier eines anderen Landes stationiert sind. Im Morgengrauen hören sie Hilferufe ausserhalb des Tores ihres Postens. Mit einem Blick durch die Sprechklappe sehen sie zwei Männer in ziviler Kleidung, wobei einer ein Gewehr des Typ Kalaschnikow bei sich hat. Beide scheinen verletzt zu sein. In gebrochenem Englisch und Arabisch geben die Männer zu verstehen, dass sie dringend medizinische Versorgung benötigen.
Fragestellung
- Ihr UNO-Mandat verpflichtet sie zur Neutralität und Unparteilichkeit. Was tun Sie in dieser Situation?
Handlungsempfehlungen zum Decision Game aus Leader’s Digest #18
Ein Plädoyer für analytische Tiefe und humanitären Pragmatismus
Das Szenario der beiden verletzten Männer vor dem UN-Posten hat die Teilnehmer vor eines der schwierigsten normativen Probleme gestellt, mit denen Militärpersonal in Friedensförderungseinsätzen konfrontiert werden kann: die Kollision zwischen dem humanitären Imperativ, dem strengen Mandat und der Notwendigkeit der Eigensicherung. Die eingegangenen Antworten haben die ganze Bandbreite möglicher Reaktionen aufgezeigt, von strikter Nicht-Einmischung bis hin zu hochriskanten Interventionen.
Nach sorgfältiger Prüfung aller Einsendungen freue ich mich, Hptm Nicolas Muzzetto zum Gewinner dieses Decision Games zu küren. Sein Lösungsvorschlag besticht durch eine ausserordentliche analytische Tiefe, die direkt in einen ebenso pragmatischen wie professionellen Handlungsplan mündet.
Was den Ansatz von Hptm Muzzetto auszeichnet
Viele Einsendungen haben korrekte Handlungspläne skizziert. Doch Hptm Muzzetto geht einen entscheidenden Schritt weiter. Er liefert nicht nur eine Lösung, sondern eine Herleitung mit Tiefgang. Er beginnt damit, das Dilemma in seiner ganzen Komplexität zu «kartographieren» (sein eigenes Wort: cartographiée). Er identifiziert präzise die Spannungsfelder, die in dieser Situation wirken:
- Der persönliche Konflikt: Die eigene «moralische Kompassnadel» (boussole morale) und die humanistischen Werte, die zur Hilfe drängen.
- Der professionelle Konflikt: Die Loyalität gegenüber dem Auftrag, der Armee und dem Land, die eine Gefährdung der Mission verbietet.
- Der rechtliche Konflikt: Das Mandat der Neutralität und Unparteilichkeit gegenüber der allgemeinen Pflicht zur Hilfeleistung.
Diese tiefgründige Analyse ist der Grundstein seiner Lösung und hebt sie von anderen ab. Während einige Vorschläge sich auf eine prozedurale Checkliste konzentrierten, hat Hptm Muzzetto den Kern des ethischen Problems freigelegt. Er erkennt, dass eine gute Entscheidung hier nicht nur Regeln befolgen, sondern konkurrierende Werte abwägen muss.
Vom Denken zum Handeln: Die überlegene Lösung
Aus dieser klaren Analyse leitet er einen Handlungsplan ab, der in seiner Ausgewogenheit heraussticht. Seine Entscheidung, dass das Öffnen der Tür ein absolutes «NO GO» ist, wahrt den fundamentalen Grundsatz der Eigensicherung. Doch anstatt in Passivität zu verfallen, schlägt er ein aktives, kontrolliertes und humanitäres Vorgehen vor:
- Verhandeln aus gesicherter Position: Die Bedingung, dass die Waffen niedergelegt und neutralisiert werden müssen.
- Kalkulierte Hilfeleistung: Das Reichen eines Erste-Hilfe-Kits durch eine Öffnung, ohne die physische Integrität des Postens zu kompromittieren.
- Professionelle Eskalation: Die gleichzeitige Alarmierung der UNDOF, um die Situation an die dafür zuständige und ausgerüstete Stelle zu übergeben.
Dieser Ansatz gewinnt, weil er das Beste aus verschiedenen Perspektiven vereint: Er ist menschlich, ohne naiv zu sein; er ist sicherheitsbewusst, ohne zynisch zu werden; und er ist mandatskonform, ohne die humanitäre Verantwortung zu ignorieren. Er vermeidet die Fehler anderer Vorschläge – sei es die gefährliche Mandatsüberschreitung, die Männer als Kriegsgefangene zu behandeln, oder die moralisch unbefriedigende Haltung, nur passiv auf Anweisungen zu warten.
Hptm Muzzetto zeigt, dass in der Militärethik die beste Handlung manchmal aus der tiefsten Analyse erwächst. Wir gratulieren ihm zu dieser Leistung und wünschen ihm eine spannende Lektüre von «My War Gone By, I Miss It So» von Anthony Loyd.