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Leader's Digest Leader's Digest #23 Newsletter

Decision Game und Handlungsempfehlungen aus Leader’s Digest #22

Zum Decision Game aus Leader’s Digest #22 haben uns detailierte Handlungsempfehlungen erreicht. Oberstlt i Gst Patrick Hofstetter hat die Einsendungen gesichtet und nun in der Adventszeit sogar zwei Handlungsempfehlungen mit einem Exemplar des Buchs des Monats prämiert!

Die Decision Games des Leader’s Digest sollen die Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters anregen, sich im Rahmen von Szenarien in die Rolle von Personen zu versetzen, die sich mit ethischen bzw. taktischen Herausforderungen konfrontiert sehen.

Zunächst wiederholen wir das letztmalig vorgestellte Szenario; im Anschluss würdigt Oberstlt i Gst Patrick Hofstetter, von der Dozentur für Führung und Kommunikation an der ETH Zürich, die diskussionswürdigste Handlungsempfehlung.

Decision Game aus Leader’s Digest #22

Gegner

GARONNIA verfügt über eine mechanisierte Division mit drei mechanisierten Brigaden, die jeweils aus zwei mechanisierten Bataillonen, einem Panzerbataillon und einem Infanteriebataillon bestehen.

Ihr Ziel ist es, GENF als Pfand zu nehmen, indem eine erste Brigade aus der Bereitstellung COLLONGE – PÉRON – THOIRY – SERGY über die Achse ST-GENIS-POUILLY in Richtung GENF stösst und ein Nebenstoss über die Achse CHANCY-BERNEX-LANCY-GENF erfolgt.

Eigene Mittel

Obwohl die Truppenkonzentrationen von GARONNIA an der Grenze seit mehreren Tagen das Schlimmste vermuten lassen, hat der Bundesrat den Grenzübertritt der eigenen Truppen noch immer nicht genehmigt. Es ist davon auszugehen, dass dies erst nach Beginn des gegnerischen Angriffs erfolgen wird.

Die Einsatzverband Infanterieregiment 8 verfügt über drei Infanteriebataillone, zwei mechanisierte Kompanien, eine Geniekompanie, eine Rettungskompanie, einen Drohnenzug, einen Drohnenabwehrzug und eine Stabskompanie.

Er hat den Auftrag, die Einnahme von GENF (FLUGHAFEN ausgenommen) durch GARONNIA zu verhindern.

Sie sind Kommandant der (verstärkten) Infanteriepanzerabwehrkompanie 19/3. Diese umfasst
• einen Infanteriezug mit RGW (Panzerabwehrwaffe, Reichweite 200 m);
• zwei Infanteriezüge mit NLAW (Panzerabwehrwaffe, Reichweite 600 m);
• einen 8,1-cm-Mörserzug (Reichweite 5 km);
• einen Späherzug (Reichweite des Scharfschützengewehrs: 1 km).

Ihr Bataillonskommandant hat soeben die Befehlsausgabe beendet. Seine Absicht ist einfach: Er will mit zwei Kompanien nebeneinander sperren und die Drehscheibe Ausfahrt Vernier / Ausfahrt Meyrin mit einer Kompanie halten (siehe Karte).

Auftrag

Sie haben den Auftrag erhalten, in BOURDIGNY nördlich von MEYRIN zu sperren.

Umwelt

Der Kanton Genf weist in seinem Zentrum eine hohe Bevölkerungsdichte auf, zu dem die Stadt Genf und die sie wie ein Kranz umgebenden Vororte (Carouge, Chêne-Bourg, Chêne-Bougeries, Lancy, Meyrin, Onex, Thônex, Vernier) gehören. Dieses Stadtzentrum umfasst ein bedeutendes Landwirtschafts- und Weinanbaugebiet, das Mandement im Nordwesten und die Champagne im Südwesten.

Analysieren Sie die Umgebung mit Hilfe des Tools www.geo.admin.ch oder einer Landkarte im Maßstab 1:25’000 oder 1:50’000.

Zeitverhältnisse

Sie müssen keinen endgültigen Entschluss, Absicht oder Befehle formulieren, um Ihre Antwort einzusenden. Beantworten Sie einfach die vier Fragen des taktischen Dialogs.

Analysieren Sie die Umwelt in 5 Minuten und versuchen Sie anschliessend, diese vier Fragen in 5 Minuten zu beantworten (dies wurde bei einer Generalstabsinspektion verlangt).

Fragestellung

Im Rahmen des taktischen Dialogs bittet Sie der Bataillonskommandant folgende Fragen zu beantworten:

  • Welche grundlegenden Varianten ziehen Sie für die Positionierung Ihrer fünf Züge in Betracht?
  • Was ist Ihrer Meinung nach das Schlüsselgelände ROT entlang der Achse ST-GENIS-POUILLY – GENF?
  • Welche Unterstützung benötigen Sie von den Stufen Bataillon und Regiment im Rahmen der Kampfvorbereitungen, um Ihren Auftrag erfüllen zu können?
  • Welche kritischen Infrastrukturen in Ihrem Sektor müssen Sie bei der Durchführung der Aktion unbedingt berücksichtigen?

Handlungsempfehlungen zum Decision Game aus Leader’s Digest #22

Das Tactical Decision Game #22 forderte für einmal nicht einen Entschluss, sondern die Beantwortung von vier Fragen im Rahmen des taktischen Dialogs. Diese Form des Austauschs ist für gelebte Auftragstaktik zentral: Taktische Aufträge sind keine einseitige Übermittlung. Der Einbezug der Unterstellten durch den Kommandanten erlaubt die Synchronisation der verschiedenen Stufen. Die Motivation hierzu ist weniger ein partizipativer Führungsansatz als die Notwendigkeit, in komplexen Situationen das wirkungsvolle Miteinander sicherzustellen. In der Befehlstaktik (international: detailed command) wird dies durch minuziös abgestimmte Planung versucht, in der Auftragstaktik (international: mission command) durch ein gemeinsames Verständnis der Lage und des Auftrags. Die Kriegsgeschichte ist voll von Beispielen, dass dieser Ansatz in den Unwägbarkeiten des Gefechts deutlich erfolgsversprechender ist.

Fünf Vorschläge sind eingegangen, von denen zwei herausstechen und sich dabei sehr ähnlich sind. Die Besprechung beschränkt sich auf diese beiden Eingaben, um also die Ausmarchung zwischen Maj i Gst Schweizer und Hptm Iselin nachzuzeichnen, auch wenn die übrigen drei zahlreiche Elemente ebenso aufweisen.

Die erste Frage – welches sind die grundsätzlichen Varianten – läuft darauf hinaus, wie das Schwergewicht der Truppe zu platzieren ist. Es ist noch vor der Frage nach der Reserve (ja/nein; wo/was) und der Organisation (Gliederung) das Hauptkriterium, das Varianten unterscheidet. Der für eine Kompanie sehr grosse Einsatzraum lässt sich grundsätzlich zweiteilen: das schmale, überbaute Gebiet entlang der Hauptstrasse 101 mit der Infrastruktur des CERN und der Genfer Vorortsgemeinde MEYRIN und das viel grössere, vom Rebbau geprägte Gebiet westlich davon. Entlang der Hauptstrasse 101 erwartet die vorgesetzte Stufe den Hauptstoss – und sie hat gute Gründe dafür: ein Stoss über die Rebberge ist zwar möglich, aber nur die Hauptstrasse 101 bietet eine leistungsfähige Achse zur späteren Versorgung eines erfolgten Stosses. Maj i Gst Schweizer bezeichnet die beiden Varianten wie folgt: «2 Züge vorne (CHOULLY und CERN) – 1 Zug hinten (MEYRIN)» oder «ein Stützpunkt im Raum CERN». Hptm Iselin sieht dieselben Varianten und zusätzlich noch die Variante «1 Zug vorne, zwei Züge hinten». Bei beiden und in allen Varianten ist aber das Schwergewicht mit mindestens 2 Zügen klar entlang der Hauptstrasse 101 – fraglich ist nur, ob überhaupt ein Kampfelement auf die Anhöhe CHOULLY platziert werden soll. Punktegleichstand für die beiden.

Die zweite Frage – welches ist das rote Schlüsselgelände – wird unterschiedlich beantwortet. Maj i Gst Schweizer nennt nur das CERN, was mit Blick auf die Position entlang der Hauptstrasse nachvollziehbar ist. Hptm Iselin sieht nicht nur das CERN, sondern auch die Anhöhe CHOULLY, und argumentiert «Beide, die Hauptstrasse oder die Anhöhe, erlauben ihm [dem Gegner] die erfolgreiche Aktion. Es reicht aber eines davon, weshalb es hier kein Schlüsselgelände ROT gibt.» Das ist in sich konsistent und misst sich wohl daran, welches Gewicht der vorgesetzte Kommandant dem westlichen Raum beimisst (deshalb ja auch Dialog). Ich neige hier zur Lesart Maj i Gst Schweizer: wenn der Gegner den Raum CERN in Besitzt nimmt, ist das für den Erfolg der Aktion entscheidend; damit ist für mich das Kriterium «Schlüsselgelände» erfüllt.

Die dritte Frage – beantragte Unterstützung von den vorgesetzten Stufen – wird von beiden umfassend beantwortet. Beide beantragen Geländeverstärkungen entlang der Hauptstrasse 101 und Unterstützung bei der Evakuation der Zivilisten im Raum MEYRIN. Maj i Gst Schweizer nennt zudem noch «Glasklare ROE» betreffend Kampfeinsatz im Raum CERN, Hptm Iselin Drohnenschutznetze entlang der Haupt- und Nebenstrassen zum Schutz der logistischen Versorgung sowie, falls verfügbar, Panzerabwehrminen (wir wollen hoffen, dass die Schweiz solche noch rechtzeitig beschaffen oder produzieren wird). Auch wenn ich beiden zustimme, geht dieser Punkt an Hptm Iselin.

Die vierte Frage schliesslich ist jene nach der Kritischen Infrastruktur: auch hier nennen beide Eingaben sowohl das CERN als auch das Spital De La Tour in MEYRIN (weitere Eingaben haben noch das Schloss CHOLLY genannt; hierbei handelt es sich tatsächlich um ein geschütztes Kulturgut, dem ich allerdings nicht den Status einer kritischen Infrastruktur beimessen würde). Damit bleibt es beim Gleichstand.

Man darf mir ruhig mangelnde «Entscheidungsfreude» vorwerfen, wenn ich also keinen klaren Sieger im TDG#22 erkenne. Mit Blick auf den OODA-Loop und John Boyd halte ich allerdings fest, dass die Orientierung (Orient) noch wichtiger ist als die Entscheidung (Decide); Boyd hat damit auch die Überlegenheit der Auftragstaktik gegenüber der Befehlstaktik begründet. Insofern übe ich mich heute in «Orientierungsfreude»: ich danke allen treuen Leserinnen und Lesern, aber auch den aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmern und hoffe, dass der taktische Lerneffekt – das gemeinsame Verständnis – auch ohne expliziten Sieger erzielt wurde. Damit erhalten, passend zur Adventszeit, sowohl Maj i Gst Schweizer als auch Hptm Iselin das Buch «Qu’est-ce qu’un chef ?» von Général d’armée Pierre de Villiers als Bescherung. Ich wünsche gute Lektüre und fröhliche Weihnachten!

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