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Leader's Digest Leader's Digest #1 Newsletter

Decision Game und Handlungsempfehlungen aus Leader’s Digest #1

Die Decision Games des Leader’s Digest sollen die Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters anregen, sich im Rahmen von Szenarien in die Rolle von Personen zu versetzen, die sich mit ethischen bzw. taktischen Herausforderungen konfrontiert sehen.

Zunächst wiederholen wir das von Oberstlt i Gst Reto Wegmann erstelle Szenario; im Anschluss findet sich eine Würdigung der diskussionswürdigsten Handlungsempfehlungen durch Oberstlt i Gst Patrick Hofstetter, Dozent Führung und Kommunikation der Militärakademie an der ETH Zürich.

Decision Game aus Leader’s Digest #1

Sie sind als Kommandant einer Infanteriekompanie Teil des SWISSBAT (Swiss Bataillon) im Friedensförderungsdienst in DANUBIEN. Sie arbeiten in vier Zügen mit den Aufgaben «Schutz, Ruhe, Eingreifreserve und Training / Reorganisation» in einer 8h-Rotation. Der Auftrag stellt explizit und unmissverständlich klar, dass keine weiteren Aufgaben wahrgenommen werden dürfen, weil die Durchhaltefähigkeit über Monate aufrechterhalten werden muss.

Aus Schweizer Sicht ist klar, dass der Schweizer Beitrag nicht primär militärischer Natur ist und die Infanteriekompanie ausschliesslich dem Selbstschutz des SWISSBAT dient. Um zu verhindern, dass die Schweiz zur Eskalation der Lage beiträgt, ist es darum in den Einsatzregeln explizit untersagt, in Konflikte von Drittparteien einzugreifen (vgl. 51.007.04d RVE, Art. 39). Der Schutzauftrag gilt für eigene Personen und Objekte. Die klaren und engen Einsatzregeln wurden von allen Angehörigen des SWISSBAT in der einsatzbezogenen Ausbildung mittels Szenario-Trainings eingeübt. In den vergangenen Monaten hat sich die Lage zunehmend verschärft. Verschiedene Gruppierungen bekämpfen sich gegenseitig, einige wehren sich auch explizit gegen jede ausländische Präsenz in DANUBIEN.

Zug RUTISHAUSER befindet sich momentan in der Phase «Training» und ist deshalb mit dem ganzen Zug und vier GMTF im Gelände, um Patrouillentätigkeiten und Kontaktdrills zu festigen. Lt RUTISHAUSER hat vor 20 Minuten auf dem Führungsnetz gemeldet, dass der Zug aus dem kleinen Dörflein EGSEMPLICE laut und deutlich Gefechtslärm vernehme.

Gerade eben meldet sich Lt RUTISHAUSER noch einmal. Der bei ihm eingebettete Übersetzer IDRIS hat sich telefonisch bei Freunden der EGSEMPLICE Municipality Police erkundigt und offenbar leisten sich bewaffnete Gruppen ein Feuergefecht um das Hotel CENTRAL. Lt RUTISHAUSER berichtet, dass er auch telefonischen Kontakt mit PETER hatte, einem Mitarbeiter des Schweizer Hilfswerks AYUTAS vor Ort. PETER befindet sich im Hotel CENTRAL mit seinem Team von fünf Schweizerinnen und Schweizern, alles Wasseringenieurinnen und Programmleiter, welche Projekte an den lokalen Abwassersystemen vorwärtsbringen sollen. Die Funkverbindung ist klar genug, sodass Sie in der Stimme von Lt RUTISHAUSER einen seltsamen Unterton verspüren: «Schau, Kadi, PETER hat mir erklärt, dass fünf mit Sturmgewehren bewaffnete Extremisten das Hotel stürmen wollen.» Ihr Atem stockt – Sie wissen, dass die lokale Untergrundarmee in der Vergangenheit schon einmal Entwicklungshelfer exekutiert hatte, um alle ausländischen Akteure zum Abzug zu zwingen. AYUTAS war eine der wenigen, die sich davon nicht einschüchtern liessen.

Lt RUTISHAUSER scheint kurz zu zögern, dann setzt er noch einmal an: «Das sind Schweizer, Zivilisten. Heute Abend sind die entweder Geiseln – oder tot». Lt RUTISHAUSER informiert Sie in klaren Worten, dass er seine Entschlussfassung abgeschlossen hat und er eingreifen werde. Derzeit reorganisiere sich der Zug. In 15 Minuten werde er den Zug in Bewegung setzen, um den Schweizerinnen und Schweizern helfen.

Auf die Einsatzregeln, den offensichtlichen Bruch der rechtlichen Grundlage, die Bedeutung im Gesamtrahmen und das fehlende Mandat angesprochen meint Lt RUTISHAUSER bloss «wie gesagt, Hauptmann, meine Entschlussfassung ist abgeschlossen – ich gehe». Sie sind mit Lt RUTISHAUSER seit Beginn der EBA Duzis. Wenn er ausnahmsweise die formale Anrede «Hauptmann» wählte, klang meist ein ironischer Unterton mit. Jetzt meinte er es aber offensichtlich todernst. Er will nicht nur die Einsatzregeln brechen, er will dies auch im Vorsatz tun und kündigt das sogar an.

Handlungsempfehlungen zum Decision Game aus Leader’s Digest #1

Wir haben auf das erste Decision Game erfreuliche zwölf Handlungsempfehlungen erhalten. Besonders gefällt die Autorenvielfalt: Aktive und ehemalige Armeeangehörige sowie interessierte Zivilpersonen, Männer und Frauen, Deutsch- und Französischsprachige, Berufsmilitärs und Milizkader vom Wachtmeister bis zum Obersten haben sich die Zeit genommen, ihre Überlegungen zu formulieren. Wir danken an dieser Stelle für den Effort und auch für das Verständnis, dass wir nicht jede Einsendung inhaltlich beantworten können.

«Ein klassisches Dilemma!», schrieb ein Leser. Eine Auswahl soll zeigen, dass bei solchen weder eindeutige noch einfache Lösungen existieren:

  • Einige Leser betonen, dass die Einsatzregeln als Produkt der Politik nicht einfach so übergangen werden können, auch wenn die eigenen moralischen Vorstellungen dies nahelegen würden. Die Einsatzregeln seien aus der politischen und militärischen Zusammenarbeit der Schweiz und der Gastgebernation entstanden, womit deren Bruch diese ganze Kooperation in Frage stellte; dies dürfe nicht riskiert und in keiner Form unterstützt werden. Diese Einsendungen fokussieren meist darauf, mit welchen Argumenten Lt Rutishauser von seinem Vorhaben abzubringen sei und erläutern, wie mit ihm nach der Rückkehr zu verfahren sei.
  • Mehrere Einsendungen haben sich vertieft mit den möglichen psychologischen Gründen für das Verhalten von Lt Rutishauser auseinandergesetzt und in seiner Person ein inakzeptables Risiko für eine solche Krisensituation erkannt. Das deplatzierte Verwenden von Ironie in einer solchen Krise, fehlende Loyalität und mangelndes Verständnis für den Gesamtrahmen wurden dabei als Indikatoren genannt.
  • Ein österreichischer Autor beurteilt den Fall (unter Bezugnahme auf das Dienstreglement und weitere Reglemente der Schweizer Armee) aus rechtlicher Sicht, bevor er zur taktischen Analyse übergeht. Darin findet sich ein Argument, weshalb ROE nicht absolut gelten können: «Obgleich Lt RUTISHAUSER dem Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten, welche die ROE festgelegt haben, verpflichtet ist, legitimiert die drohende Gefahr (möglicher Tod von Schweizer Staatsangehörigen) in Kombination mit der gegebenen Offiziersausbildung des Leutnants die Neubeurteilung der Situation unter Einbeziehung der gegebenen Umstände».
  • Die Fürsorgepflicht für die Angehörigen des Zugs Rutishauser, aber auch für die weiteren Angehörigen einer allenfalls einzusetzenden Reserve wurde immer wieder betont. Einige Autoren stellen dem aber auch die zwingende Risikobereitschaft von Soldaten, deren Anwesenheit als freiwillig vorausgesetzt wird, gegenüber und merken mehrfach an, dass dies auch für Mitarbeiter ziviler Hilfsorganisationen gelte.
  • Die Mehrheit der Einsendungen basiert aber auf der Annahme, dass Lt Rutishauser nicht mehr von seinem Entschluss abzubringen sei. In der Konsequenz würden einige als Kommandanten die Reserve zu aktivieren, um ihn zu unterstützen: etwa, indem sie die Zufahrtswege und Anhöhen besetzen, um günstige Voraussetzungen zu schaffen für die Aktion des Zugs Rutishauser.
  • Andere betonen, dass die Reserve gerade nicht ausgelöst werden soll, um die Durchhaltefähigkeit für den Hauptauftrag sowie den Eigenschutz zu gewährleisten. Es wurde auch das Risiko erwähnt, dass die Geiselnahme ein Ablenkungsmanöver das Camp des SWISSBAT das eigentliche Ziel der Terroristen darstellen könnte.
  • Mehrfach wurde auch an mögliche Nachbartruppen gedacht, die zudem vielfältig eingesetzt werden können. So wollte jemand die Militärpolizei avisieren, um Lt Rutishauser festnehmen zu lassen – während jemand anderes ihn überzeugen wollte, seine Absicht so zu korrigieren, dass er mit einer gestaltenden Aktion günstige Voraussetzungen schafft, um dann die entscheidende Intervention von der Militärpolizei oder einer anderen geeigneten Formation durchführen zu lassen.
  • Verschiedene Begründungen werden aufgeführt, weshalb Lt Rutishauser trotz offensichtlichem Regelbruch zu unterstützen sei: entweder, weil mit seinem Entscheid schlicht neue Tatsachen geschaffen wurden, oder aber schlicht aus Loyalität gegenüber dem Entscheid eines unterstellten Offiziers, im Vertrauen auf dessen Urteilsvermögen vor Ort.
  • Hierzu eine exemplarische Begründung: «Es ist offensichtlich, dass ich als Kdt meinen Zfhr nicht umstimmen kann. (…) Ich gehe davon aus, dass die Konsequenzen (…) weit weniger schlimm ausfallen, wenn diese Aktion von Erfolg gekrönt ist. (…) Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich wider den Schutzauftrag und die Einsatzregeln handle. (…) Wenn es hart auf hart kommt, sollen sich meine Unterstellten darauf verlassen können, dass ich sie unterstütze – vor allem in schwierigen Situationen. Aufträge und Situationen sind veränderbare Variablen, die mir anvertrauten Unterstellten bilden eine Konstante.»

An dieser Stelle die «richtige» Lösung bekannt zu geben, wäre nicht nur eine Anmassung für die Newsletter-Redaktion, es widerspräche auch allen Grundzügen der militärethischen Bildung: Ethische Dilemmata sind Spannungen, die nicht einfach auflösbar sind. Führungskräfte und insbesondere Kommandanten haben sich diesen zu stellen und sie letztlich persönlich, im jeweiligen Kontext, zu bewältigen. Um sich dennoch nicht ethisch im Nebel des Krieges zu verstecken, heben wir eine Einsendung hervor, die uns in der Stringenz besonders positiv aufgefallen ist, umfassend geschrieben und dennoch prägnant auf weniger als zwei Seiten Platz gefunden hat.

Diese Einsendung

  • fasst in einer Tabelle die Sofortmassnahmen zusammen: Taktischer Dialog Lt Rutishauser, anschliessend vier Aufträge an den Stellvertreter, den Kommandogruppenführer und zwei Führungsgehilfen;
  • weist darin als zentrale Aussage den folgenden Satz auf: «Mentaler Switch von ‹Kann ich verhindern› zu ‹müssen wir gewinnen›»;
  • ergänzt in drei Sätzen eine nachvollziehbare persönliche Einschätzung;
  • sieht für den weiteren Verlauf drei alternative taktische Vorgehen vor, in Abhängigkeit der Verfügbarkeit von Unterstützungskräften, etwa der örtlichen Polizei und/oder die Eingreifreserve einer anderen Nation, die anderen ROE unterworfen sein könnte;
  • schliesst trotz aktiver, taktischer Unterstützung in jedem Fall mit der Eröffnung eines Strafverfahrens.

Der Beitrag stammt aus der Feder von Hptm Camilla Setz1 – wir gratulieren zum Gewinn eines Exemplars von «The Mission, The Men, And Me» von Pete Blaber, das in den kommenden Wochen persönlich übergeben wird.

  1. Der Transparenz halber: Hptm Camilla Setz war bis 31.12.2022 Kompaniekommandant bei Oberstlt i Gst Reto Wegmann, dem Autoren des Decision Games. Letzterer war entsprechend nicht in die Gewinnerwahl involviert. ↩︎
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Buch des Monats: «The Mission, The Men, and Me» von Pete Blaber

Was ist die Kernaussage des Buches?

Pete Blaber arbeitete jahrelang als Führungsperson auf verschiedenen Ebenen der «Delta Force» und teilt in diesem Buch seine gesammelten persönlichen Lehren anhand von praktischen und konkreten Beispielen. Es geht um Auftragserfüllung, Vertrauen, Umgang mit Komplexität, Innovation und Lernen, Kommunikation und die Grenzen des Gehorsams.

Was gefällt Ihnen an diesem Buch am besten?

Man muss Blaber nicht mögen, um von seinen Beispielen inspiriert zu werden, um über häufige Probleme in hierarchischen Systemen nachzudenken. Dass er mit seinen Interpretationen diesen Denkprozess unterstützt und mit persönlichen Meinungen und Standpunkten in seinen eigenen Fallbeispielen nicht spart, ist grossartig.

Gibt es Punkte, in welchen Sie die Argumentation des Buches nicht unterstützen, oder Bereiche, die Ihrer Meinung nach zu kurz kommen?

Nein, das Buch ist in sich geschlossen. Natürlich ist es aber kein Geschichtsbuch. Die erwähnten Fallbeispiele bedürfen weiterer Recherche für Leser oder Leserinnen welche sich mehr für US Sonderoperationen (oder -einheiten) als für Führungslehren interessieren.

An wen richtet sich Ihre Empfehlung?

An alle, denen Prozesse alleine nicht genügen, und an alle, die schon immer dachten, dass persönliche Erkenntnisse nicht falsch sein müssen, nur weil sie der gängigen Lehre widersprechen.

Wie hat Ihnen dieses Buch im militärischen Führungsalltag geholfen?

Mehrmals. Beim Überschreiten von Grenzen, beim Ausrichten des persönlichen moralischen Kompasses, beim Umgang mit Komplexität und Ungewissheit, beim Entwickeln eines Produkts, bei zahlreichen anderen Problemstellungen.

Zu welchem Teilaspekt des Command-Leadership-Management-Modells ordnen Sie Ihr Buch zu?

Das Buch schlägt eine Brücke zwischen allen Bereichen. Es behandelt Vertrauen und Kommunikation (Leadership), Entscheidfindung und Entwicklung (Management) sowie inhaltlich-taktische Elemente wie Tarnung/Täuschung oder taktische Bewegungen (Command). Der Titel in sich symbolisiert quasi bereits das Command-Leadership-Management-Modell.

Wo sehen Sie zukünftig die grössten Herausforderungen für die Führung in der Schweizer Armee?

Dass wir nicht in der Lage sein werden, uns von lähmenden Ressourcen (zu grosse Stäbe und Verwaltungseinheiten) und lähmenden Prozessen (puristische Auffassungen von komplizierten Papiertigern mit unzähligen Kontrollparametern für die Ausbildung) zu trennen, weil wir eine oberflächliche Selbstwahrnehmung haben.

Und wo sehen Sie diesbezüglich die grössten Chancen?

Bei den Berufsformationen, die tagtäglich in Echteinsätzen stehen (LW, KSK, EOD/KAMIR etc.) und in der Miliz, weil sie in der Lage ist, eigene (auch zivile) Erfahrungen mit den Prozessen zu verknüpfen, ohne dabei dogmatisch zu werden.


Über den Rezensenten

Reto Wegmann hat Informatik, Internationale Beziehungen und Militärwissenschaften studiert und am Lehrstuhl für Human Resource Management der Uni Luzern zur Leistungsfähigkeit von temporären Organisationen doktoriert. Er ist Mitinhaber und Sicherheits- und Krisenberater bei der Swiss Ibex GmbH und hat Lehraufträge bei der Uni Luzern. Er lebt mit seiner Familie in der Zentralschweiz und hat nun 52 Monate das Infanteriebataillon 20 kommandiert.

Über das «Buch des Monats»

Das «Buch des Monats» ist eine wiederkehrende Rubrik des Newsletters Leader’s Digest. Dieser Newsletter entsteht in Kooperation des Leadership Campus der Schweizer Armee und der Dozentur Führung und Kommunikation der Militärakademie an der ETH Zürich. Wenn Sie Leader’s Digest noch nicht abonniert haben, finden Sie unter folgendem Link weitere Informationen sowie das Formular zur Anmeldung.