Die Decision Games des Leader’s Digest sollen die Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters anregen, sich im Rahmen von Szenarien in die Rolle von Personen zu versetzen, die sich mit ethischen bzw. taktischen Herausforderungen konfrontiert sehen.
Zunächst wiederholen wir das letztmalig vorgestellte Szenario; im Anschluss würdigt Oberstlt i Gst Patrick Hofstetter, Dozent für Führung und Kommunikation an der ETH Zürich, die diskussionswürdigste Handlungsempfehlung.
Decision Game aus Leader’s Digest #19
Kontext
Ihre Einheit ist Teil einer grösseren Operation, die darauf abzielt, eine strategisch wichtige Stadt zurückzuerobern, die von einem gut befestigten gegnerischen Truppenkontingent besetzt ist. Der zu sichernde Stadtteil ist entscheidend für die Kontrolle der Kommunikationswege in der Stadt. Der Gegner, bestehend aus irregulären Kämpfern und Spezialeinheiten, nutzt Taktiken der städtischen Guerilla, einschliesslich Hinterhalte und Sprengfallen. Darüber hinaus ist der Stadtteil dicht besiedelt, und Zivilisten sind in vielen Gebäuden noch anwesend, wobei einige als menschliche Schutzschilde von den gegnerischen Kräften genutzt werden.
Missionsziel
Sichern Sie den städtischen Stadtteil, während Sie zivile Verluste und Schäden an kritischen Infrastrukturen minimieren.
Briefing
- Standort: Urbaner Stadtteil mit einer Mischung aus Wohn-, Geschäfts- und Industriegebäuden.
- Gegnerische Kräfte: Geschätzt etwa 200 Kämpfer, bewaffnet mit leichten Waffen, Raketenwerfern und Mörsern. Der Gegner hat auch Minen und IEDs (Improvised Explosive Devices) in mehreren wichtigen Strassen verlegt.
- Eigene Kräfte: Ihre Einheit besteht aus 150 Infanteriesoldaten, unterstützt von zwei leichten Panzerfahrzeugen und einem Minenräumteam.
- Zivilisten: Etwa 500 Zivilisten sind noch anwesend, wobei einige Gebäude Familien, provisorische Spitäler und Flüchtlinge beherbergen.
- Ressourcen: Begrenzte Munition. Artillerieunterstützung verfügbar.
- Logistische Einschränkungen: Hauptstrassen sind vermint oder durch Trümmer blockiert, was die Versorgung und den schnellen Truppentransport erschwert.
Zusätzliche Überlegungen
- Einsatzregeln und Ethik: Beachtung der Einsatzregeln, die absichtliche Angriffe auf Zivilisten oder zivile Infrastrukturen verbieten, und ständige Bewertung der Entscheidungen im Hinblick auf ethische und humanitäre Überlegungen.
- Langfristige Konsequenzen: Die Entscheidungen werden nicht nur die unmittelbare taktische Situation beeinflussen, sondern auch die Beziehungen zur lokalen Bevölkerung, die internationale Wahrnehmung und die globale strategische Dynamik.
Entscheidungsoptionen
Option A: Schneller Frontalangriff
Starten Sie einen sofortigen Frontalangriff mit allen verfügbaren Kräften, indem Sie die Panzerfahrzeuge nutzen, um die gegnerischen Verteidigungen zu durchbrechen. Die Minenräumer entsenden Teams, um die Hauptstrassen unter Feuerschutz zu räumen.
Vorteile: Der schnelle Angriff könnte den Gegner überraschen und es ermöglichen, den Stadtteil schnell zu sichern, wodurch die Exposition gegen gegnerisches Feuer begrenzt wird.
Nachteile: Hohes Verlustrisiko für Truppen und Zivilisten. Potenzielle massive Zerstörung von Infrastrukturen aufgrund intensiver Kämpfe. Nicht neutralisierte Sprengfallen könnten zusätzliche Verluste verursachen.
Mögliche Konsequenzen: Schnelle Eroberung des Stadtteils, aber mit erheblichen zivilen und militärischen Verlusten sowie erheblichen Schäden an Infrastrukturen. Möglichkeit, Hass unter den Zivilisten zu erzeugen, was zu erhöhtem Widerstand oder Verlust der Unterstützung der Bevölkerung führen könnte.
Option B: Gezielte Artillerieangriffe
Sie nutzen gezielte Artillerieangriffe, um bekannte gegnerische Stellungen zu neutralisieren und die Hauptansatzgebiete zu räumen, bevor Sie einen Bodenvorstoss lancieren.
Vorteile: Reduziert das Risiko für die Bodentruppen. Kann den Gegner desorganisieren und Schlüsselpositionen ohne direkte Beteiligung der Bodentruppen eliminieren.
Nachteile: Hohes Verlustrisiko für Zivilisten, wenn der Gegner menschliche Schutzschilde nutzt. Potenzielle Zerstörung kritischer Gebäude wie Spitäler oder Schulen. Risiko, die Mobilität der Truppen zu verringern, wenn Trümmer die Strassen blockieren.
Mögliche Konsequenzen: Anfängliche Neutralisierung der gegnerischen Verteidigungsstellungen, aber potenziell verstärkter Hass der Zivilisten gegen unsere Kräfte, was zu politischen Spannungen und humanitären Komplikationen führen könnte.
Option C: Diskreter Ansatz und Infiltration
Nutzen Sie einzelne Formationen, um den Stadtteil zu infiltrieren, gegnerische Stellungen zu identifizieren und gezielte Angriffe mit kleinen Elementen durchzuführen, um zivile Verluste und Schäden zu minimieren.
Vorteile: Minimierung der zivilen Verluste und der Schäden an Infrastrukturen. Möglichkeit, gegnerische Kämpfer gefangenzunehmen und wertvolle Informationen zu sammeln.
Nachteile: Langsames Vorgehen, das dem Gegner Zeit gibt, sich zu verstärken oder Zivilisten als Geiseln zu nehmen. Erhöhtes Risiko für kleine Trupps im Falle einer Entdeckung durch den Gegner.
Mögliche Konsequenzen: Allmähliche Eroberung des Stadtteils mit begrenzten Verlusten, aber Risiko einer Verlängerung der Operation und einer Eskalation der Situation, was den Stadtteil langfristig schwieriger zu kontrollieren macht.
Fragestellung
- Analysieren Sie die drei Optionen und wählen Sie dann eine davon, indem Sie diese rechtfertigen.
Handlungsempfehlungen zum Decision Game aus Leader’s Digest #19
Dieses Decision Game war in gewisser Weise ungewöhnlich: Die Aufgabenstellung blieb generisch, weder der Auftrag war präzise formuliert noch die taktische Lage im Detail bekannt. Doch gerade diese Ungewissheit entspricht oft der Realität militärischer Führung – Entscheidungen müssen unter Zeitdruck und mit lückenhaften Informationen gefällt werden. Deshalb konnten die drei vorgelegten Optionen dennoch gut beurteilt werden.
Option A – Frontalangriff wurde von allen Einsendungen verworfen. Ein solcher Ansatz erschien im urbanen Gelände gegen einen vorbereiteten, zahlenmässig überlegenen Gegner als selbstmörderisch, mit hohem Risiko für Truppe, Zivilbevölkerung und Infrastruktur.
Option B – Artillerieeinsatz wurde nur von einer Einsendung als primäres Vorgehen erwogen. Zwar könnte so die eigene Truppe geschützt werden, doch das Risiko massiver ziviler Verluste und die politisch wie ethisch fragliche Tragbarkeit wurden wiederholt als entscheidende Gegenargumente genannt.
Option C – Infiltration erwies sich schliesslich als die überzeugendste Wahl. Vier von fünf Einsendungen sprachen sich dafür aus – wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten: von einem methodischen «Bite and Hold», bis zu einem vorsichtigen, etappenweisen Vorgehen mit klarer Beachtung der Zivilbevölkerung.
Auffällig war, dass alle Beiträge eine gute bis sehr gute analytische Tiefe aufwiesen: Die Einsender berücksichtigten taktische, ethische und politisch-strategische Dimensionen – ein erfreuliches Zeichen für das Niveau der Auseinandersetzung.
Besonders herausgestochen ist jedoch die Lösung von Oberleutnant Damien Bordier. Seine Empfehlung lautete: das eine tun, ohne das andere zu lassen. Er hat sich der Aufgabenstellung nicht entzogen, sondern sich klar für Option C entschieden – allerdings mit Ergänzungen aus A und B. Mit dem Einbezug von A folgte er dem taktischen Grundsatz des «offenen und diskreten Vorgehens» (Taktische Führung 17, Ziff. 5069), der die Sicherheit einer Aktion erhöht. Mit dem gezielten Einsatz von B wiederum berücksichtigte er den Grundsatz «Feuer und Bewegung» (Ziff. 5057–5059), der im Angriff den Schlüssel zum Erfolg darstellt.
Wir gratulieren Oblt Damien Bordier herzlich und wünschen viel Freude bei der Lektüre von Urban Warfare in the 21st Century von Anthony King.